Sonntag, 20. März 2011

Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern

... denkt sich die (speziell deutschsprachige) Journaille, und läßt Artikel raus, die vor drei Tagen noch zur medialen Steinigung des Autors geführt hätten — z.B. der »Tagesspiegel« in seiner heutigen Ausgabe:
Viele Ausländer haben überstürzt das Land verlassen oder Zuflucht in Osaka gesucht. Explodierende Atomkraftwerke nahe Tokio, das erschien ihnen zu gefährlich. Vielleicht war das ein Fehler, denken sie jetzt, denn die Japaner fühlen sich verraten.

Sie musste weg, sie hat zwei Kinder. Die nahm sie, packte ein paar Koffer, wie lange sie fort bleiben würde, das wusste sie nicht, und bestieg ein Flugzeug nach Singapur. Es war das Vernünftigste, das sie tun konnte, sagte sie sich. Fliehen vor der radioaktiven Wolke, die vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima nur wenige Stunden brauchen würde, um Tokio zu erreichen.

Heute denkt Frau S., eine gebürtige Deutsche, dass es ein Fehler war. Ein schlimmer Fehler. Was werden die Japaner von ihr denken, wenn sie zurückkehrt, um den Alltag in Tokio wieder aufzunehmen und dazuzugehören? Sie kann es sich denken, auch wenn man es ihr vermutlich niemals offen sagen wird.
Und nun auf einmal erfährt man interessante Details, z.B. über das Funktionieren der japanischen Presselandschaft — in der Zeitungen nicht einfach Auflage durch Schlagzeile machen wollen, sondern die Fakten berichten. Und damit Panik vermeiden:
[...] Giles Cole ist seit vergangenem Donnerstag in Osaka. Mit Ausländern suche er keinen Kontakt. Das macht ihn nur verrückt. Jeder erzähle wilde Geschichten, die er irgendwo aufgeschnappt habe. Die Berichterstattung in ausländischen Medien schüre zusätzlich die Unsicherheit. „Das ist beinahe hysterisch, wie mit dem Thema umgegangen wird“, sagt Cole.

Ganz anders in japanischen Medien. Dass es bislang zu keiner Massenpanik gekommen ist, hält ein Experte für das Verdienst einer Presselandschaft, die sich stark deskriptiv auf Fakten konzentriert. Kaum jemals würden sich Reporter mit einer eigenen Einschätzung der Lage hervortun. Das ist auch der Grund, warum seit Tagen immer wieder neue, stets exakte Zahlen über Todesopfer verbreitet werden. Am Samstag war die Zahl der Toten auf 7320 angestiegen. Nicht, dass die Japaner genau wüssten, wie viele Menschen bei der Tsunamikatastrophe tatsächlich ums Leben gekommen sind, noch immer werden 11370 Personen vermisst, aber genannt wird nur, was auch belegt ist. Und der journalistische Kodex unter den in offiziellen Presseklubs organisierten Medien verbietet es, voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Japaner glauben einer Zeitung wie der „Yomiuri Shimbun“, die zwei mal täglich erscheint mit einer Auflage von annähernd 14 Millionen Exemplaren, „denn was darin steht, ist wahr“, sagt der Experte.
Eigentlich wäre das ein ganz normaler Zeitungsartikel. In einer japanischen Zeitung wenigstens. Denn in einer deutschen (oder gar österreichischen!) konnte man wahre Fakten in den letzten Tagen vergebens suchen ...

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P.S.: Auf »eigentümlich frei« findet sich heute ein Artikel von Axel Lieber unter dem Titel: »Warum ich in Tokio bleibe. Und warum wir ARD und ZDF meiden sollten«.

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