Freitag, 10. Oktober 2014

In memoriam Marie Luise (von) Kaschnitz

Heute vor vierzig Jahren, am 10. Oktober 1974 starb Marie Luise Freifrau Kaschnitz von Weinberg, geborene Freiin von Holzing-Berstett. Eine Dichterin auf der Suche nach der »härtesten inneren Wahrheit«, wie sie es einmal selbst formuliert hatte.

Ihre — an spektakulären Ereignisse nicht eben reiche — Biographie kann jeder selbst nachlesen. Ein typisches Kind des 20. Jahrhunderts (von welchem sie mehr als 73 Jahre durchmaß), schritt sie von Gereimtem zu Ungereimtem, von metrischer und formaler Bindung zu freien Rhythmen fort — und ich bin mir nicht sicher, ob immer zu ihrem Vorteil. Freilich: Karl Krolow pries besonders ihre späte Lyrik. Es gehöre »… eine besondere Begabung im Umgang mit dem entstehenden Gedicht dazu, um es so werden zu lassen, wie es bei Marie Luise Kaschnitz auftritt: angetan mit Schlichtheit, der Noblesse, die unnahbar bleibt für die veilfältigen verbalen Versuchungen.« — nun, Karl Krolow wußte sicherlich, wovon er sprach …

Dennoch: in »meine« hundert notwendigen Gedichte käme von ihrem lyrischen Œuvre keines ihrer von ihm so geschätzten Spätwerke, sondern vielleicht ein — etwas formfreies — Sonett aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs:
Die Ewigkeit
  
Sie sagen, daß wir uns im Tode nicht vermissen
Und nicht begehren, daß wir hingegeben
Der Ewigkeit, mit anderen Sinnen leben
Und also nicht mehr von einander wissen,

Und Lust und Angst und Sehnsucht nicht verstehen,
Die zwischen uns ein Leben lang gebrannt,
Und so wie Fremde uns vorübergehen,
Gleichgültig Aug dem Auge, Hand der Hand.

Wie rührt mich schon das kleine Licht der Sphären,
Die wir ermessen können, eisig an,
Und treibt mich dir ans Herz in wilder Klage.

O halt uns Welt im süßen Licht der Tage,
Und laß so lang ein Leben währen kann
Die Liebe währen.
Marie Luise von Kaschnitz müssen auch diese früheren Gedichte wichtig gewesen sein, denn sie nahm sie ausdrücklich in ihre Lyrik-Auswahl »Überallnie« auf — sie hatte offensichtlich keine Bedenken, »unmodern« zu erscheinen, wenn sie nicht ungereimt zu uns spräche.

Doch nicht nur Karl Krolow, auch Marcel Reich-Ranicki tönte zu Kaschnitz’ Lob vollmundig: »Die Dichtung der Marie Luise Kaschnitz zeichnet sich durch kammermusikalische Intimität aus. Gleichwohl geht von ihr eine geradezu alarmierende Wirkung aus. Sie erteilt uns eine sprachgewaltige Lektion der Stille« (diese Lektion dürfte freilich an MRR spurlos vorbeigegangen sein) …

Ihr knapp neun Jahre älterer — und zehn Jahre vor ihr verstorbener — Dichterkollege Werner Bergengruen, dessen Todes vor einigen Wochen auf diesem Blog gedacht wurde, hatte 1962 die Aufgabe, namens der »Akadamie der Wissenschaften und der Literatur« zu Mainz die Antrittsrede von Marie Luise von Kaschnitz zu erwidern, und er tat dies mit folgenden kurzen, und doch so einfühlsamen Worten:
Sie, verehrte gnädige Frau, haben uns mit Ihrer Antrittsrede etwas wie eine Autobiographie Ihres Inneren gegeben, eine Darstellung Ihres dichterischen Werdeganges und dessen, was heute Ihre Hervorbringung kennzeichnet und leitet. Es wurden da die beiden Mächte sichtbar, die den Dichter prägen und von denen keine gewillt ist, jemals ihren Anspruch auf seine Seele preiszugeben: nämlich seine mit ihm geborenen Individualität und seine Teilhaberschaft an einer bestimmten Weltstunde. Mit diesem bekenntnishaften Rückblick auf Ihre Entwicklung und Entfaltung vermittelten Sie uns aber nicht nur wichtige Aufschlüsse über Ihre eigene dichterische Individualität als die eines Kindes unseres Jahrhunderts, das mit diesem Jahrhundert die seismographische Empfänglichkeit teilt. Nein, Sie haben zugleich ein Stück Dichtungsgeschichte in nuce vor uns ausgebreitet; es ist jener literatur- und geisteswissenschaftliche Einschnitt, der von Ihnen zunächst miterlebt, danach mitvollzogen und mitbestimmt worden ist. Die Cäsur, von der Sie uns berichtet haben, geht durch Ihr Œuvre hindurch und hat gleichzeitig einen symptomatischen und grundsätzlichen Charakter in Ansehung unserer Zeit. Die Cäsur scheidet Epochen. Und mir scheint, sie tut das nicht nur im Hinblick auf die Dichtung, sondern auch auf die Gesamtheit unserer Lebensumstände und Lebensempfindungen, ihrer inneren und äußeren Struktur. (Werner Bergengruen, Mündlich gesprochen, Zürich 1963, S. 291 f.)
Marie Luise von Kaschnitz charakterisierte die Rolle des Dichters einmal so: »Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit.« Aus dem einst prophetischen Künder des Kommenden, und dem späteren Deuter des rätselvoll Bestehenden wird heutzutage also ein Sprachrohr der Ratlosigkeit. Resignative Selbstbescheidung — oder schlicht Realismus der prekärer werdenden Lage einer Literatur in den Zeiten des sozial(istisch)en Bevormundungsstaates?

Als Marie Luise von Kaschnitz starb, im Jahr 1974, war der Fortschrittsoptimismus der westlichen Welt bereits mehrfach unterminiert: durch die seit der Studentenrevolte von 1968 rasant zunehmende Salonfähigkeit linker, ja linksradikaler Ideologien, durch die Erfahrung des Ölpreis-Schocks (samt der Aufgabe auch noch der letzten, symbolischen Bindung an einen Bretton-Wood-»Goldstandard«) und — speziell in den USA — durch die unvermeidlich sich abzeichnende Niederlage im Vietnamkrieg.

Seither hat sich die Welt mehrfach gewandelt, und doch scheint jetzt — bei allen Unterschieden — ein allgemeines Lebensgefühl von Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit durchaus vergleichbar zu herrschen. Kaschnitz hatte in früheren Jahren (auch in den Jahren des Weltkriegs) ein Sonett verfaßt, das, an den Schluß des Artikels gesetzt, uns in all seiner »existentiellen Offenheit« dennoch eine Perspektive zu zeigen vermag:
Geduld
 
Geduld. Gelassenheit. O wem gelänge
Es still in sich in dieser Zeit zu ruhn,
Und wer vermöchte die Zusammenhänge
Mit allem Grauen von sich abzutun?

Zwar blüht das Land. Die reichen Zweige wehen,
Doch Blut und Tränen tränken rings die Erde
Und in der Tage stillem Kommen, Gehen
Verfällt das Herz der tiefsten Ungebärde.

Und ist des Leidens satt und will ein Ende
Und schreit für Tausende nach einer Frist,
Nach einem Zeichen, daß das Kreuz sich wende.

Und weiß doch nicht, mit welchem Maß der Bogen
Des Unheils über diese Welt gezogen
Und welches Schicksal ihm bereitet ist.
Ein Gedicht und ein Dichter kann also doch mehr sein, als bloß ein Sprachrohr der Ratlosigkeit...

2 Kommentare:

Brettenbacher hat gesagt…

Und in Bollschweil ist es sehr schön. Schön auch der Gang dahin über den Schirnberg(frisiert:Schönberg)auf dem sogenannten Bettlerpfad. Oder der Weg vom Faus-Städtchen Staufen her, entlang der großen Ebene.
Der spiritus loci ein jedes mal sehr stark. Aus dem ergreifenden Gedicht "Ewigkeit", für dessen Übermittlung wir dem Penseur danken, weht er uns an

Brettenbacher hat gesagt…

----------------sollte heißen: FausT-Städtchen.
(hat nämlich im dortigen "Löwen" der Teufel dem Faust das Genick abgedreht)