Mittwoch, 2. April 2014

Heute vor hundert Jahren

... verstarb hochbetagt der erste »richtige« Literatur-Nobelpreisträger Deutschlands. Vor ihm waren für die deutsche Sprache zwar der Historiker Theodor Mommsen und der Philosoph Rudolf Eucken, aber eben noch kein eigentlicher Dichter ausgezeichnet worden. Zwar nicht unter den regelmäßigen Lesern dieses Blogs (so hoffe ich wenigstens!), aber bei »Otto Normalverbraucher« wird der Name Paul von Heyse freilich auf weitgehende (bis völlige) Ahnungslosigkeit stoßen — und doch war dieser Dichter wohl zu seiner Zeit mindestens ebenso bekannt wie heute ein ... ... ja, wer wohl? Es gibt einfach keine auch nur annähernd vergleichbaren »Dichterfürsten« mehr in unserer heutigen Literaturwelt! Wenigstens nicht in der deutschen.

Und doch verging sein Ruhm, der immerhin mit dem zehnten Nobelpreis der Literatur gekrönt worden war, nur allzu rasch. Warum? Die Antwort auf diese Frage wirft Probleme auf: welche Schriftsteller bestehen denn im Lauf der Zeit? Ist es nur Mode, Zufall, oder sind es doch geheime Gesetze, die den einen literarischen Nachruhm bescheren, während andere in den Regalen der Antiquariate verstauben? Sicher wird gern die Antwort gegeben, daß ein Schriftsteller, der zu sehr in seiner Zeit wirkte, damit zugleich seine Hoffnung auf künftige Wertschätzung verwirke — aber stimmt das denn? Hat ein Johann Wolfgang von Goethe nicht ebensosehr in seiner Zeit gewirkt, wie Paul von Heyse in der seinen — und zwar dieser so sehr, daß auch ein Theodor Fontane (der kein oberflächlicher Literaturmodegeck war!) die Vermutung äußerte, man werde das späte 19. Jahrhundert in Analogie zum Goetheschen Zeitalter in Weimar als das Heysesche bezeichnen! Nun, keine Frage: die literarische Universalität eines Goethe konnte Heyse nicht ernstlich nachgesagt werden, das war schon seinen Zeitgenossen (wie auch ihm selbst) durchaus klar. Aber dieser »Mangel« wird von ihm bspw. mit einem Fontane geteilt, der dennoch (trotz vieler wohl in den Dämmer der Literaturgeschichte endgültig versunkener Werke) mit einigen seiner Romane und Gedichte immer noch lebt und wirkt! Warum also …?

Der Punkt wird wohl im sichtlichen Desinteresse Heyses an politischen und sozialen Fragen liegen. Und das wird ihm von einer, sich wenigstens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer als »engagiert« gebärdenden Journalistik, der ein gewisses »Links-Sein«, ein »Progressivismus« genetisch eingeboren zu sein scheint, nicht verziehen. So frei sich Heyse über bürgerliche Vorurteile zu erheben vermag — man denke etwa an seine völlig unfrivol erzählte späte Novelle »Fromme Lüge« (1906), in der er den heroischen Entschluß einer Ehefrau thematisiert, ihrem liebevollen, doch unter ihrer Kinderlosigkeit insgeheim leidenden Mann seine frühere Verlobte näherzubringen, um ihm so ein Kind zu »schenken« —, so wenig konnte er den sozialen Problemen seiner Zeit, die von den Naturalisten ad nauseam behandelt wurden, für sein Schaffen eine literarische Inspiration abringen. Nicht, daß es ihm etwa an Mitgefühl für Armut und Not gefehlt hätte (oft genug zeichnet er auch, und mit fühlbarer Wärme, Gestalten in allen nur denkbaren Notlagen und materieller Bedrängnis!) — aber der politische »Wille zur Gesellschaftsveränderung« war bei ihm einfach nicht vorhanden. Das sicherte ihn zwar gegen die dem heutigen Leser oft widerwärtige Tendenzlastigkeit vieler Naturalisten, diskreditierte ihn jedoch in den Augen der »Engagierten«.

Doch auch Germanisten vom Fach werden mit Heyse höchstens das Schlagwort der »Falkentheorie« verbinden — und im übrigen auf seine »Epigonalität« verweisen, die jede Beschäftigung mit diesem Dichter entbehrlich erscheinen ließe. Doch wie so oft sind Schlagworte zu bloßen Kampfbegriffen degeneriert, die mehr verschweigen und diskreditieren wollen, als sie uns an Erkenntnis vermitteln. Wenn unter »Falkentheorie« verstanden wird (und auch von Heyse in seinen eigenen 180 Novellen so verstanden wurde), daß jede Novelle ein prägnant herausgearbeitetes Motiv von originärem Zuschnitt bringen soll, dann ist das ja schon aus dem Wort »Novelle« (das ja etwas Neues, Überraschendes in sich trägt) selbstverständlich, und hebt diese von anderen Kurzformen der epischen Prosa ab. Wer freilich allzu schematisch eine originelle »Figur« darin erblicken möchte, wird bald erkennen, daß nicht unoriginärer ist, als schematisch gehandhabtes Originell-sein! War nun Paul von Heyse so ein Originalitätshascher? Wohl nicht, weder in seiner Theorie, und schon garnicht in seiner reichen Praxis!
»Von einer künstlerisch wertvollen Novelle kann man verlangen, daß sie uns einen typisch menschlichen Fall darstellt. Sie soll nicht banal sein, vielmehr die menschliche Natur von einem neuen Gesichtspunkt aus zeigen. Der enge Rahmen der Erzählung verlangt eine strenge Konzentration.«
Mit diesen wenigen, fast dürftig scheinenden Worten umreißt dieser Großmeister des Genres das Wesen der Novelle — einer literarischen Form, die er eben wie nur wenige seiner Zeit — nein: aller Zeiten — beherrschte. Ob mit, ob ohne »Falken« — seine Novellen fliegen dem Leser pfeilschnell dahin und können noch heute (so man denn auch Fraktur lesen kann, denn neu aufgelegt worden ist seit Jahrzehnten fast nichts davon!) fesseln. Wenn, ja wenn man nur bereit ist, sich auf »typisch menschliche Fälle« in einer geordneten, stilistisch durchgearbeiteten Sprache einzulassen, statt in von des Gedankens Blässe nur zu oft angekränkelten literarischen »Experimenten« kaum verständliche Hanldungsfragmente in noch unverständlicheren Sprachfetzen zusammensuchen zu müssen.

So zu schreiben, wie Heyse es ganz selbstverständlich beherrschte, das vermögen heute wohl nur noch die wenigen großen Erzähler insbesondere der angelsächsischen Literaturszene, die es eben noch nicht verlernt haben, einen Leser statt geschmäcklerischer Rebus-Rätsel real vorstellbare Charaktere und Handlungsverläufe in lesbarer Diktion zu präsentieren. In Deutschland (und Österreich) sind sie faktisch ausgestorben — oder vielmehr: von einer blasierten »progressiven« Literaturkritik beinahe brachial ausgerottet worden.

Ein kurzes Wort noch zum Lyriker: hier ist das heutige Urteil über den Übersetzer und Romanisten (»Italienisches Liederbuch«) deutlich günstiger als über den selbstschaffenden Künstler. Manche seiner Gedichte leben auch noch wegen der genialen Vertonungen, zu denen sie Komponisten von Range eines Johannes Brahms inspirierten. Es ist bezeichnend, daß von seinen hunderten Gedichten gerade einmal vier in das Gutenberg-Projekt Eingang gefunden haben ...

Noch »völliger tot« ist freilich der Dramatiker Heyse! Sein einziges Drama, das wenigstens eine Zeit lang den Tod des Dichters überleben konnte, »Colberg«, ist durch seinen Ge- bzw. Mißbrauch als Nazi-Filmsujet (das den Namen des Autors der Drehbuchvorlage schamvoll verschweigt — Heyse war schließlich »Halbjude«!) wohl für alle Zeit »verbrannt«. Die weiteren 67 Dramen sind wohl mit aller Kunstfertigkeit nicht wiederbelebbar — in Ermangelung von kleinen, illustren Hof- bzw. soliden Stadttheatern ohne Sehnsucht nach Skandalinszenierungen.

Warum nun sollte man Paul von Heyse trotzdem lesen? Gibt es nicht schon nachgerade viel zu viel Literatur — und ist das Leben nach einem bekannten Diktum nicht einfach zu kurz, um schlechten Wein zu trinken und ebensolche Literatur zu lesen? Zweifellos. Nur ist Heyse eben keine »schlechte« Literatur. Er schrieb bloß eine Literatur, die nach seinem Tod denkbar schlechte Kritiken hatte. Dennoch — wer beispielsweise die kurze Novelle »Unvergeßbare Worte« gelesen hatte, der wird die Stilsicherheit Heyses ebenso bewundern, wie seine Fähigkeit, geradezu zwingende Handlungsabläufe zu ersinnen und psychologisch zu motivieren (!), und so selbst unwahrscheinliche Wendungen im Schicksal der Figuren für den Leser ebenso rational nachvollziehbar wie dennoch überraschend zu gestalten. Und das ist wohl mehr und höheres, als von den meisten Erzeugnissen unserer derzeitigen Literaturszene gesagt werden kann.

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