Montag, 12. April 2010

»Die Betroffenen stehen in psychologischer Betreuung ...«

Irgendwie erscheint mir die heutige Tendenz, alles und jedes als »traumatisierend« und »psychologischer Betreuung« bedürftig anzusehen, ein Vorwand für Wehleidigkeit und Unverantwortlichkeit zu sein! Kaum fährt irgendwo ein Flugzeug beim Landen in die Pampas (ohne Tote und Schwerverletzte, wohlgemerkt!), oder muß notlanden, weil ein Passagier einen Herzinfarkt bekam oder die Stewardeß von einem betrunkenen russischen Oligarchen in den Hintern gezwickt wurde, wird uns schon über Fernsehnachrichten beruhigend versichert: »Die Betroffenen wurden psychologisch betreut«. Na, wie schön für sie.

Mir ist nicht bekannt, daß meine Urgroßmutter »psychologisch betreut« wurde, als ihr einziger Sohn 1917 am Isonzo fiel. Mir ist auch nicht bekannt, daß mein Vater, im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront und kurzfristig in russischer Kriegsgefangenschaft, jemals psychologisch betreut worden wäre. Oder meine Mutter, die den Bombenkrieg miterlebte, vor den Russen flüchtete und nach ihrer Rückkehr erfuhr, daß ihre beste Freundin, bei einem Bombeneinschlag verletzt, mit ansehen mußte, wie ihre Mutter von russischen Soldaten vergewaltigt, und ihr Vater, der sie davor retten wollte, krankenhausreif geschlagen wurde. Die genannten haben das ohne psychologische Betreuung, die uns heute inflationär angeboten wird, irgendwie überstanden, obwohl sie in ihren Fällen womöglich durchaus angebracht gewesen wäre.

Und deshalb glaube ich auch nur schaumgebremst an die Geschichte mit den »jahrzehntelangen Folgen« von »Kindesmißbrauch«. Klar: ein brutal vergewaltigtes Kind erleidet ein Trauma. Bei denen, die Watschen bekamen (ich rede nicht von krankenhausreif geprügelt!) glaube ich es schon weniger. Bei denen, die unter Nutzung eines Vertrauensverhältnisses oder einer bereits bestehenden emotionalen Nahebeziehung zu sexuellen Aktivitäten veranlaßt wurden, je nach Alter der Kinder bzw. Jugendlichen von »ja, durchaus« — bis »gar nicht«.

Und ich führe dafür einen plausiblen Grund an: wie sonst hätte die Menschheit in weitaus unlustigeren Zeiten, z.B. als Höhlenmenschen, mit Spießen und Keulen gegen Bären und Wölfe, die sie fressen wollten, psychisch überlebt? So, wie der menschliche Körper erstaunlich robust gebaut ist, so ist es auch die Psyche — wenn man sie nicht verweichlicht. Das ist nun kein Plädoyer für Dresche oder gar Vergewaltigung — nur meine Skepsis gegen die derzeitige Hysterie, mit der diese Dinge aufgeblasen werden, als wären Sie das schrecklichste Ereignis der Menschheitsgeschichte.

Bornemann schreibt in seinem (piis auribus offensivum) »Lexikon der Liebe« zum Stichwort Kindesmißbrauch sinngemäß: je weniger Aufhebens darüber gemacht wird, wenn es vorgefallen ist, desto weniger Folgen hat es auch. Das ist für heutige eine ganz unvorstellbare Äußerung — aber so ganz von der Hand weisen kann ich ihre Plausibilität nicht, wenn ich daran denke, daß wohl die meisten von uns als Kind mit Nachbarkindern »Doktorspiele« veranstaltet haben, die zwar die Eltern entsetzten, aber uns erst durch das von uns mitbekommene Entsetzen der Eltern überhaupt als »Verbotenes« bewußt wurden. Und warum sollten »Doktorspiele« mit Erwachsenen sich da für das Kind völlig anders verhalten?

Insofern plädiere ich für »Entsetzen mit Augenmaß« — und weiß genau, daß genau das wohl die am schwierigsten zu verwirklichende Vorgangsweise sein wird. Und zwar schwierig für nahezu alle:

  • diejenigen, die ihre Frustrationen an der Kirche ausleben wollen, werden in ihrem Haß auf alle Schwarzröcke kein Augenmaß kennen, denn wer wollte sich schon seine Vorurteile durch die schnöde Realität verwässern lassen;
  • diejenigen, die Sensationen solange suchen, bis sie sie finden, erst recht nicht — denn »sex sells«, und solang die Auflage stimmt, wird ganz »spontan« entsetzt, was das Zeug hält (man denke bloß an den armen Kloster-Ettal-Ermittler »Ettal: Mißhandlungen verfolgen Ermittler in den Schlaf« — kurze Zwischenfrage: wie überlebt dann eigentlich ein Entwicklungshelfer z.B. in Haiti? Oder ein Polizist in Mexico City? Stelle ich mir dort irgendwie schlimmer vor, als im Internat Ettal ...);
  • aber auch die Gläubigen, die jetzt den Spagat zwischen postulierter Heiligkeit der Kirche und offenkundiger Unheiligkeit mancher ihrer Diener versuchen müssen, werden eher einer »ratz-fatz«-Mentalität zuneigen und die »Unwürdigen« jetzt tendenziell »in den Boden stampfen« wollen ...

Ach, und hier stehe ich nun als alter, nicht kirchen-unfreundlicher Aufklärer und Freigeist, mit einem melancholisch-ironischen Lächeln im Mundwinkel, und frage mich: was tun? »Que sais-je?«, pflegte mein verehrter Sieur de Montaigne in solchen Fällen zu fragen. Womit auch ich diesen meinen »Essay« beschließen möchte — freilich im Wissen: auch die anderen, die sich jetzt in ostentativem Entsetzen ergehen, wissen es nicht.

Sie tun bloß so ...

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Zutreffend. Punkt.

nwr hat gesagt…

Ja, Augenmaß wäre gut, ist aber heute angesichts der Hype-Abfütterung der Medienkonsumenten völlig undenkbar, denn die gelangweilten Massen müssen und wollen mit Tittytainment abgelenkt werden.

Anonym hat gesagt…

Ich glaube schon, dass psychische Traumata und das Post-traumatische Stress-Syndrom sehr schlimm sind. Aber ich glaube nicht, dass den Betroffenen durch die aufgedrängte Behandlung geholfen wird. Ich glaube nicht an die Heilwirkung der psychologischen Therapien und noch weniger an die menschliche und fachliche Qualifikation des therapeutischen Personals.
Möglicherweise wird alles durch die Therapie noch viel schlimmer.

Den Grund dafür, dass den Menschen immerzu psychologische Behandlung "nahegebracht" wird, sehe ich darin, dass sie auf diese Weise sehr tiefgreifend ausgeforscht und in eine persönliche Abhängigkeit gebracht werden können. Das betrifft vor allem Soldaten, Polizisten, andere Menschen des öffentlichen Dienstes und solche, die es noch werden können, eben Schüler. Es wird meines Erachtens genau das gemacht, was man der Scientology Sekte oder auch der katholischen Kirche mit ihrem Beichtsakrament anlastet.
Zur Bekräftigung meiner Behauptung möchte ich darauf hinweisen, dass die therapeutische Situation nicht mehr vor geheimdienstlicher oder polizeilicher Nachforschung geschützt ist.

In Bezug auf Kindesmissbrauch und andere menschliche Tragödien bin ich darüber hinaus der Meinung, dass gerade die Behandlung des Themas in den Medien das Problem für die Betroffenen ganz erheblich verschlimmert. Sie werden noch einmal zusammen mit ihren Peinigern wie Zirkustiere vorgeführt.

Was den Sachverhalt des Kindesmissbrauchs angeht, bin ich ebenfalls der Meinung, dass differenziert werden muss: Sex mit Kindern ist zwar von der gesetzlichen Definition her immer Missbrauch und verboten, aber darum nicht automatisch gegen den Willen des Kindes und hat auch nicht unbedingt schlimme Folgen.
Unter "Doktorspielen" verstehe ich allerdings immer eine Beschäftigung von Kindern miteinander, ohne Erwachsene. Wenn ein Erwachsener dabei ist, hat das Geschehen eine andere Qualität.